Jonis Hartmann bespricht Mütze #34

Festgefügte Fruchtfolge

Die 34 beginnt mit einem korrigierten Wiederabdruck der Gedichte von Lucía Sanchez Saornil unter dem Titel Ein paar Gedichte, aus der mütze 33, aus dem Spanischen von Brigit Kirberg und Christian Filips. Die „radikalen Interpunktionsinterventionen“ s.u. sind verschwunden: „An das Seelenpiano / legt keiner Hand an“. Es folgt ein weiterer Text der Dichterin, ein Vortrag zum Thema Feminismus, der auch heute (fast) so gehalten sein müsste. „Sie wettern zwar gegen das Eigentum, sind aber selber radikal besitzergreifend“. Leider ohne Datum, „Man verschmäht die Frau als bestimmenden Faktor der Gesellschaft und weist ihr den Status eines passiven Faktors zu. Man verspottet den direkten Beitrag einer intelligenten Frau zugunsten ihrer vielleicht unfähigen männlichen Nachkommen. Ich sage es nochmal: Wir müssen die Dinge beim Namen nennen“, aktueller kann Historisches nicht sein: „Letzten Endes bin ich der Meinung, dass die Lösung dieses Problems allein in einer angemessenen Lösung der wirtschaftlichen Frage liegt. Im Systemwechsel. Nirgends sonst. Alles andere behält die alte Sklaverei bei und ruft sie lediglich bei einem neuen Namen.“

Ein Text von Carl Weuster, Zur Frage unseres Exils, in einer überdeterminierten Sprache zwischen DIN-Büro- & Literaturjargon geht via spirituell konstruierter Gegenwelt aus „Reservaten, fröhlicher Diaspora“, zwischen Lyonesse und Brocéliande, der Suche nach „dem Ursprung des Exils“ nach. Diese bliebe eine Aufgabe der Gemeinde, „die Kirche leitet hieraus unseren Anspruch auf Rückkehr ab, sowie auf Rückübertragung der Gebiete und Stätten, die sie als die unseren identifiziert haben will.“ […] „Die Philosophie der Metazeit ist die jüngste unserer vier großen Schulen. Wie alles Neue verdanken wir sie dem Lachen über das, was vor ihr kam, wie auch dem Verhaften daran.“ Weusters Prosastück wirkt wie eine Allegorie auf jüngste (älteste) Verwerfungen des (realen) Zusammenlebens (Lachens). Es gebe „Praktiken der Erleuchtung“, z.B. „Fasten, Gebet sowie die Technik des meditativen Lachens“ zwischen „Sklaven-Sein und Sklaven-Sein“ stellt die Erzählstimme fest, schließlich das kommunal geleistete Schweigegelübde, welches aufzuweichen, einmal zur Erkenntnis gelangt während Forschens, den Traktat interessiert. Zuallerletzt jedoch sozusagen im Angesicht des Großen Schöpfs, wie Iwan Karamasow, schließt der wissbegierige Traktat mit einem „Geheimnis!“ und breitet damit erneut den Mantel des Schweigens über etwaige Antwort.

Heinz Peter  Geißler beschert eine Sternstunde. In seiner Prosa Unsere berühmte argentinische Stille reiht sich Sagenhaftes aneinander, „Man bleibt in seiner Betrachtung immer zur Hälfte ein Schmetterling“. Spielerisch, doch mit allem technischen Ernst purzelt aus einer niedlichen Bruder-Rahmenhandlung ein Kolibri nach dem nächsten. „Das Schächtelchen blieb das Schächtelchen. Wind kam von vorn und verschwand dementsprechend hinten. Erinnerung schaute die Wirklichkeit wie aus einem Rückspiegel an. Wirklichkeit fuhr auf die Erinnerung zu. Eine Astgabel wurde zur Erinnerung an eine Zwille.“ Seine Leichtigkeit verbunden mit der ihm eigenen Tragikomik, bei sprachlicher Ausgeh-Lust, macht Geißlers Text zu einem Showstopper, der jedes Wiederlesen mit neuen Finessen belohnt. Stills für die Ewigkeit:

„Er beißt beim Schlucken immer mit seinen ganzen Zähnen zu.

In der Biene sitzt ein Ton und sie fliegt mit ihm davon.

Wenn ich in meine Hände sehe, sehe ich Freude in meinen Händen drin.“

Jede*r findet vermutlich eigene Satz-Ewigkeit in der Berühmten argentinischen Stille.

Danach haben es die Texte schwer. Michael Donhauser erforscht in Parfums den „Duft von Tinte“ in abenteuerlich ausufernden Ein-Satz-Miniaturen, die nicht ganz auf den Punkt kommen möchten, sondern herum flirren & mit jedem neuen Komma eine andere Richtung einschlagen, jedoch im letztendlichen Bogen in ihre Semantik zurückfinden. Als wäre jenes Schreiben jeweils ein Jungfernflug einer Biene s.o. aus dem Stock in den Stock.

„uns blinkt ein morgen, ohne immortellen“, etwas geschmolzene Prosa kommt von Jayne-Ann Igel, die in den 80ern (Entstehungszeit) startet, so die Selbstauskunft, und mit Texten heutigen Jahrs „korrespondieren“, in Wirklichkeit aber etwas ausgestellt wirken, ohne dass sich jenseits ihrer eigenen Logik etwas ergibt, „das funkeln der sterne auf vaters zunge“ zieht sich ein wenig.

Eleonore Frey beschließt die aktuelle mütze mit Täter und Tatort, einer dichten, wenn auch stellenweise bemühten Engschilderung von Kriegs- und Kindheitslogik, die ebenfalls mit einem unglücklichen Heute zu korrespondieren scheint.

Geißlers Beitrag bleibt die Punktlandung der 34, eventuell sogar einiger mützen.

Jonis Hartmann bespricht Mütze #33

rallalalaio

Christian Filips‘ Erstes Gedicht, 1987 stellt alles Weitere in den Schatten mit Bildern wie einem Topf, auf dem eine Maus klebt. Die Illustration rechts am Heftrand zeigt den gedichtlich errichteten Sachentierturm, bei dem Mensch zum Glück nicht vorkommt. Man blickt gespannt auf das Zweite Gedicht, von wann.

Urs Engelers Mein lieber Lühr, ein Vortrag, gehalten 1998, zeigt mit einer Gegenüberstellung, besser Gegenüberlesung zweier Gedichte von Hugo Ball (Wolken) „baumbala bunga“ und Thomas Rosenlöcher (Die Kirschbaumepistel) „im Blütensausen und Insektendonner“ u.a., dass „meistens schon nach dem zweiten Mal [Lesen] klar ist, ob das Ding vor uns überhaupt ein Gedicht ist oder nicht. Wenn nämlich nach dem zweiten Mal klar ist, was da steht, und ebenso deutlich, dass da weiter nichts ist, als was man verstanden hat, dann ist es kein Gedicht.“ Und Dasein eines Rosenlöchlerschen Satzes im Gedicht „nicht damit Sie verstehen, sondern damit Sie sehen und hören, was in ihm alles passiert.“ Geschehen „nicht einfach nur angesprochen, sondern [um] ergriffen“ zu werden durch ihr „Noch-einmal-erschaffen“ des Wahrgenommenen mit den „Mitteln der Sprache“ – ein grundlegender Vortrag, der sprechen lässt, was zu sagen ist.

Nils Röllers Datengedichte verwenden eine Bleistiftspitze prozesshaft zur Formgebung in einem Silbenseismograph, „folgsam der Ordnung / des Betriebs / des Vehikels“. Feiner Rhythmus des Datensammelns „für die Nuss (mich)“, die sich selbst befragt, eichhörnchen-ersichtlich Beute zu sein oder aus zu sein auf Eichung („eichen“) von „Zeitmasse“. Eine Übersetzung des wörtlichen Mitfahrens auf einer Tramgelegenheit.

Im Anschluss Konstantin Ames‘ Liedmanagement, gewohnt wirschlaut, dabei fein verballte Wortpralinen, „1am“, die wenig Raum benötigen, oft vorzüglich versalzen, „sag selbst, wer schneidet hier Messer ab?“, „in der Art wie Regen fällt unter Wasser“.

Es folgen Michael Spyra Vier Gedichte und Brigitte Struzyk Einundzwanzig Gedichte, die beide jeweils Gänge zurückschalten, sich mehr als an Mitteilung interessiert ausweisen, Aufzählungen und aufgezählte Gedichte. Bei Struzyk im Sinne einer Standpunktbestimmung mit „Sprache / Die heute noch / Etwas heiser / Aus dem Weltall / kommt“.

Eine alphabetische Umordnung Raymond Roussels Versdichtung La Vue nimmt Christian Steinbacher mit Raubbau mit Roussel vor. Deren rhythmische Manieriertheit dadurch eine interessante Brechung/ Distanzierung erfährt:

„Ist er, der nach Bizarrem sucht auch ohne Creme“?

WIESE hat zwei Gedichte von Galal Alahmadi übersetzt. Von schnickschnackloser Qualität, Die schwarz leuchtende Tür, die selber ins sich eintritt, „Ich war keine Tür, von innen betrachtet […] und mich draußen vergisst.“ Das zweite als eine Steigerung der Finsternis ins „Schwärzer-als-Schwarz“.

Eine ergiebige Schlussladung kommt mit der Übersetzung von Lucía Sanchez Saornil Ein paar Gedichte, aus dem Spanischen von Brigit Kirberg und Christian Filips. Texte aus den frühen zwanziger Jahren, unter Pseudonym verfasst, die bewusst die Zeilenoptik aufbrechen, einige radikale Interpunktionsinterventionen vornehmen – flirrende kurze Belichtungszeilen, mit Situationskomik:

„.Spiegel lassen Paare sich verfehlen
.Monokel purzeln in die Damendekolletés“

Jonis Hartmann bespricht Mütze #32

Begegnung mit einem Baiovarius

Christian Filips‘ Arbeitsjournal Flugmäusemodus, Höllengelächter eröffnet Mütze 32, zu Theresia Prammers Danteprojekt letzten Jahres. Dabei geht es Filips um den Komplex, in welcher Sprache Vergil bei Dante denn tatsächlich spricht / sprach & wie diese heute übersetzt sein könnte, der Kluftsprung zwischen Latein & Italienisch. „Der abrupte Wechsel der Töne in der Commedia stellt immer wieder vor die Frage: Soll man übersetzen, was die Figuren im Text selbst nicht verstehen oder falsch verstanden haben?“ Mehr noch: „Bezieht nicht die Commedia ihre Komik gar aus diesem verschwiegenen Übersetzungsgeschehen?“ – Dante und Vergil, die „einander unentwegt missverstehen“. Schließlich das Diskutieren der „darkroom“-Ästhetik der Höllenqualen, sowie das über Jahrhunderte der Übersetzung versuchte Vereinnahmen Dantes als wechselweise christlich-nationalistisch-diffamistisches Werkzeug, wo im Original möglicherweise Teile kernlich angelegt zu sein scheinen: „In dieser Hinsicht ist Dante ein poetischer Zeuge, kein Überzeugter seines Weltbilds“ jedoch, so Filips. Das Journal ist mit vielen Links & Images unterlegt, ein Dossier beinahe.

Sandra Burkhardt erschafft eine kybernetisch-methodische Dichtung, Hauptversammlung „Hausputz“ als Korrespondenz einer Bienenstock-WG-Putzplankonferenz. Sie bedient sich Samples & Silbengewichtsberechnungen. Verspielt zwischen Zwang und Gesang, wie es beim Putz nur sein kann:

„Ja Reinigungsdienst! Servus!“

Der Datierer ist Jude Stéfans behutsame durcheinandergewirbelte Sammlung von jahresdatlichen Betrachtungen von Art wie: „96 ging der Winter im April zu Ende 97 im Februar“, mit oder ohne Bezug zum Schreibenden. Ein ergiebiges Format „von 30 bis 2000 langweilte ich mich“, als kluge Oszillation zwischen Aufnahme & Inszenierung, mit Lebensendmutmaßungen, die wie Gewissheiten herziehen aus „zu weit gegangen“, „Leibesübungen“, „sterbliche Seele zu beruhigen“. Mützenpeak.

Es folgt eine politische Rede von Miriam Rainer Festrede zum Hieronymustag, in der das Wirken des Übersetzer:innenpatrons in Syrien mit dem Heute zueinander in Verbindung gebracht wird, wie auch das Nichtwirken Geronimos als Übersetzer (für die falschen Hände), um die Unabhängigkeit des Übersetzens, beziehungsweise den grenzüberschreitenden eigenen Willen dieses Aktes gegen ihre Vereinnahmung & Bedienung als Werkzeug des Machterhalts von Istzuständen (mit oder ohne Literatur) in Stellung zu bringen. „Mit den Worten der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Spivak ließe es sich auch so fassen: Krieg ist der allegorische Name für eine extreme Form der Unübersetzbarkeit.“

Zwei Zyklen von Jayne-Ann Igel, langes gedicht & Restlöchertango, folgen, ein ergebener resignativer Tonfall durchweg, in sich gekehrt. „kiefern im abwald“, „vorn die straße und hier der wildverbiß“ […]

als ich zu laufen begann
passte kein schuh
dachte immerzu
barfuß über den onkel“

Die Texte weigern sich. Ihnen „stinken diese restlöcher“ aus der „bergbaufolgelandschaft“, „du hattest grus auf den wangen“, „dir bleibt nichts als der alltägliche abrieb vom leben“. Ihr Atem geht schwach, fast müde.

Ein Verzahn aus Thomas Schestag und Dante hebt an „il buono incantatore – der gewogene Verzauberer“. Schestags Wortschar ist ein Verwandtschaftsschwarm, im poetischen Essay gefangen. „Reimschiffchen“, „ein Wünschen […] das an der Leere, einer Überfülle, Überflüssigkeit, Gefallen findet“. Das Auslegerboot bedient sich einer Herde an textoptischen Eingriffen, um einen „Schwellen“eintritt des kleinen Danteschen Gedichts zu erzählen. Ist das Textgrafitti? „Philologophilie“.

Mae Schwinghammer verwendet in Covids Metamorphosen Fetzen & Re-Konstruktionen aus eingepflegtem Ovid zu einer schwingenden kommentierten Setlist für den öffentlichen Raum. (Dieser Titel war eine Frage der Zeit).

„schillernde schlangen. Alles täterformen, alles jupiter.“

„boreas, der eisige wind. ein täter.“

Jonis Hartmann bespricht Mütze #31

Unsere weit vorgerückte Ohnmacht

Mütze 31, eine Lyrikmütze, beginnt und schließt als Buchstützen mit dem Gedicht Vertikale Realitäten bzw. Realitete vertikale der albanischen Dichterin Luljeta Lleshanaku, worin steht: „Du hast meinen Morgengruß gehört / wie einen stampfenden Elefant auf einem Klavier / oder die sich auflösenden Säume an der Jacke meines Vaters.“

Ein Konstatatgedicht von Stanisław Barańczak folgt, das Dagmara Kraus aus dem Polnischen übersetzt hat, Aufrücken, die „Ohnmacht“ unter einer Reihe „Hasswürstchen“ wird gezeigt, weit vorgerückt, und wie es scheint prophetisch, Barańczak starb 2014.

Ein Almanach zeitgenössischer deutschsprachiger Lyrik füllt die nächsten Seiten, wobei Bertram Reinecke zunächst mit barock-zusammengesetzten cuts zu Gedichtskulpturen unter dem Titel 2 Preisgetichte beginnt.

„Die Thränen mischen sich bey meiner Dinte eyn.

Wo könt ich prächtiger als da verwahret seyn?“

Konstantin Ames verfasst eine dichtschuldige Silbenbeatbox, mit Hochwut soliert:

„Janz Zapf Hopf Pick

Bach Elze Gräf Danz

Manz JUNG Drux Gnüg

Hell Bail Bánk ZAHL „NEIN! Du sollst die Stifte nicht essen!“

Wie als Antwort liest sich eine längere uncreative-writing Exposition von Hannes Bajohr aus Lernprozesse, die eine Exegese beziehungsweise einen Querschnitt deutscher Gegenwartslyrik (gefunden auf lyrikline.org) herausstellt, sozusagen eine weitere Lyriktabelle formt.

„Ich machte mir einen Knoten in den Leib

Die Beine eingehämmert und mit den Füßen in den

Hals hinein verkippt

Wie in viel zu großen Mücken.

(So daß diese Mücken mausen)“

Das Programm, das dichtet, antizipiert und keine Ahnung im herkömmlichen Sinne hat, eine Chance, die Bajohr ausspielt. Dicht auf kommen Gedichte von Thorsten Krämer, betitelt Kämmerlein obscura, die wieder unprogrammiert im analogen Sinne sind, doch sind auch sie programmatisch. In scheinbar leichtfüßigen Versen über Kopernikus und Tinte in der Gießkanne, geht es Krämer in Wirklichkeit um ein Halbzitatrecycling, in einer wie abgespulten Hochsprache beim Schlafwandeln, „Die Lust, das sind die anderen“.

„[…] Zerstreuung ist das neue Böse, du sollst nicht mein Selbstgespräch stören.“

Christian Steinbacher eignet sich Verse aus Hölderlins Blödigkeit an, „gerissen“ wie er schreibt, um sie in Oden zu verbauen. Ziemlich wirsch, „Lanzarote storniert, bleibt’s halt beim Kämmerchen“, ein Sprechen gegen die Form.

Der schwedische Lyriker Magnus William-Olsson, den unlängst Monika Rinck unter Hypnose übersetzte, wird hier von Peter Zimmermann, mit Nichts ist jemals zu spät, zweisprachig präsentiert. Ein beeindruckendes, vielschichtiges Nebularium, eigenartige Sequenz, bei der sich Zweifel so sehr reproduzieren, bis sie blühen in einem „Zeigefingerwind“. „Das gelbe Frühlicht zog / dich wie die Nadel einen Faden durch die aufgereihten Augenblicke. Was / gibt es außer dem, was ist?“ Menschen, die auf dem Weg ins Exil „in die Irre gehn“, „untergehn“, „ausgeblasenen Herzens“. Zwischen Antiken, Inquisition, Schiffen verknüpft William-Olsson hier wie ein dunklerer Svein Jarvoll historische Gefühlsebenen.

„Wen also, Magnus, rufst du jetzt als Zeugen der Wahrheit an?“

„Es gibt / eine Nacht in der Nacht“, „die Zeit, da Spindoktoren […] so taten, / als holten sie den Leuten Steine aus den Schädeln“.

Christian Filips übersetzt Dantes letzten Inferno-Canto neu für ein zeitgenössisches „Dantegastmahl der Diebe“ namens Lectura Dantis in 33 Gesängen, bei dem eine unendliche Sprachelegenaz auffällt ebenso wie Sicherheit in inhaltlicher Fest- und Ernsthaftigkeit. Dante und „meister mir“ Vergil begegnet die Flugmäusemode, und schließlich der „richtige ausgang“:

„Ich starb noch nicht und war am leben kaum;

jetzt denk dir selber, wenn du denken kannst,

was mit mir war, von beidem schier beraubt.“

fixpoetry

Zu Ende des Jahres 2020 hat die Webseite fixpoetry ihren Betrieb eingestellt. Das ist für viele eine weitere der Katastrophenmeldungen, an denen das vergangene Jahr bereits überreich war. Für mich ist fixpoetry durch nichts zu ersetzen. Nirgendwo sonst, in keiner der Tages- und Wochenzeitungen, in keiner Zeitschrift oder Bibliothek und erst recht in keiner Buchhandlung fand ich versammelt, was in Deutschland, in Österreich und der Schweiz an Literatur geschrieben und veröffentlicht wird. Bei fixpoetry gab es das alles – unabhängig von seinem ökonomischen Gewicht – täglich neu in der Form von Hinweisen auf Veröffentlichungen und ihrer kritischen Würdigung. Damit haben die Herausgeberin Julietta Fix und ihre Mitarbeiter*innen so viel mehr geleistet, als was die Sonntagsredner der Presselandschaft an hehren Absichten zur Förderung des kulturellen und sozialen Lebens versprechen. fixpoetry stellt ein unschätzbarer Reichtum dar, der heute nur, nein: glücklicherweise immer noch sichtbar ist auf den 333 Seiten des Archivs auf https://www.fixpoetry.com/feuilleton (und dort hoffentlich sicht- und lesbar bleibt). Das alles macht aber nicht nur deutlich, wie lebendig und vielfältig die literarische Szene ist – es zeigt, leider, auch, dass sie nicht reich genug war, sich fixpoetry zu bewahren. Es bleibt uns, nach diesem Verlust eines einzigartigen Ortes der Anerkennung und des Respekts, wie so oft, nur die Vereinzelung in der je eigenen Arbeit und Veröffentlichung. Ich verneige mich vor Julietta und bedanke mich bei allen, die fixpoetry möglich gemacht haben. Auch ich habe innerlich von zahlreichen Besprechungen der roughbooks (https://www.fixpoetry.com/fix-zone/2019-07-02/10-jahre-roughbooks) und von beinahe allen Heften der Mütze (zuletzt der Hefte 27, https://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritik/urs-engeler/muetze-27, und 28, https://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritik/urs-engeler/muetze-28, wie immer von Jonis Hartmann besprochen) gelebt. Danke.

Jonis Hartmann, Michael Braun und Marie Luise Knott besprechen Mütze #26

Mütze #26 war, nach längerem Winterschlaf, wegen der Grenzschliessung zwischen Deutschland und der Schweiz, die den postalischen Zustelldienst durch hohe Gebühren absurd machte (das Porto hätte wesentlich mehr betragen, als was ich für ein Heft in Rechnung stelle), zuerst (und zum ersten Mal) online erschienen. Vielleicht hat dieser Umstand die Besprecher*innen beflügelt, jedenfalls gab es wesentlich mehr Echo als üblich: „Wie gut“, schrieb Jonis Hartmann auf fixpoetry, „dass die Mütze erwacht ist.“ Vor allem die Gedichte von Farhad Showghi haben ihm gefallen („zehn ausgezeichnete Seiten Lyrik“), zu dem Michael Braun wiederum in seiner Reihe „Zeitschrift des Monats“ bei „signaturen, forum für autonome poesie“ schreibt: „Auch die neuen Gedichte von Farhad Showghi, die sich „ins Sprechen träumen“, führen in der neuen Mütze ins semantisch Offene“, nachdem er bereits festgestellt hatte: „Die Mütze hat überhaupt eine Vorliebe für Dichter, die – wie [Ronald] Johnson – den Ausbruch ins Offene lieben, die Abweichung von normativen Poetiken, die Entschlossenheit zum Alleingang, die Bereitschaft zu ästhetischer Dissidenz. Zu ihnen gehört auch der polnische Dichter und Übersetzer Tomasz Różycki, der davon überzeugt ist, dass die Buchstaben den stärksten Drogen gleichkommen, denn – so Różycki – „sie befreien die Imagination“. […] Wenn man nun in der Mütze die ungeheuer fesselnden, lakonisch gefügten Różycki-Gedichte in der Übersetzung von Dagmara Kraus liest, wünscht man sich gleich ein ganzes Różycki-Buch in der Übertragung durch diese sprachempfindliche Dichterin.“ Die Gedichte von Tomasz Różycki haben es auch Marie Luise Knott angetan, die in ihrer „Tagtigall“ auf Perlentaucher schreibt: 

„Mittendrin in der Mütze (S. 1325) ein Zyklus mit Gedichten von Tomas Rozicki in der Übersetzung von Dagmara Kraus.

Die Erde

Unser Planet heißt Erde in den Handbüchern
schreiben sie, dass wir nach wie vor vier
Jahreszeiten haben: Sommer, Herbst, Winter
und Frühling. Das ist kompliziert.
Aber Schwerkraft, Temperatur,
Druckverhältnisse und die Glocke, die luftige Kugel,

in der wir sind, erlauben uns zu leben. Eine kleine Veränderung
reicht aus und wir verschwinden, doch es hat
jemand die Parameter so präzise justiert, dass
das Wunder währt. Sein Prinzip ist die Zeit. Auf ihr
steht das Gebäude. Auf einem winzigen Körnchen,
darin eingemeißelt deine Todesstunde.

Egal, welche Engel in dieser Glocke, die wir die Welt nennen, ihre Hände im Spiel haben: Das Wunder währt.“

Die Worte werden zu uns. Guido Graf schreibt bei „Pfeil und Bogen“ über Robert Kelly

„Soziale Poetik ist das Geschäft der Dichtung. Es geht gar nicht anders. Die Sprache, so Robert Kelly in der Mütze, ist ‹der Andere in unserem eigenen Mund›. Wenn dieser Andere nicht spricht, gibt es keine Dichtung. Die Sprache der Dichtung lässt Dichter und Dichterinnen sprechen. […] Die Subversion der sozialen Poetik, die politisch nicht dadurch ist, dass sie tönt, sondern Verbindungen auflöst und neue schafft, indem sie weitermacht, nicht mitmacht, zuhört, vervielfacht, durch stille Post, durch das, was die Dichtung nicht weiß, sondern was sie sich sagen lässt. Kelly nennt auch das Lassen, dieses lose Wort in seiner doppelten Ausrichtung von Erlauben und Verhindern. Dieser Widerstand, der nicht aufzulösen ist. Oder der, wo er aufgelöst wird, Dichtung nicht mehr zulässt. Der Widerstand der sozialen Poetik ist inhärent, als konstituierende Überraschung. Die Dichtung sagt etwas, von dem sie weiß, dass sie es nicht weiß. Undsoweiter. Eine ausweglose Offenbarung. Das Zuhören, das Überraschen, das Vervielfachen – alles gilt dem Anderen. Das Ich und der Andere machen, wenn es etwas wird, weiter. Zusammen und gegeneinander, als Komplizen des Selbst. ‹Die Worte werden zu uns.› Wenn die Subjektivierung dergestalt objektiviert wird, verändert das was, lässt etwas wachsen.“

Der ganze Text von Guido Graf steht hier bei „Pfeil und Bogen“.

Guido Graf arbeitet am Institut für literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität Hildesheim, wo er unter anderem litradio.net betreut und Mitherausgeber der literarischen Revue Pfeil und Bogen ist.

 

https://pfeil-undbogen.de/die-worte-werden-zu-uns/